Lange bevor das Schreiben begann, in meinem Leben einen solchen Raum einzunehmen, dass ich nun nicht mehr umhinkomme, mich als Schriftsteller zu bezeichnen, war ich Musiker. Den Musikern*1 ist die Übung so selbstverständlich, wie den Sportlern* das Training. Wie viel weniger glamourös dieses Künstler*leben ist, als man meint! Stundenlang Tonleiter, stundenlang Arpeggien.
Es ist erstaunlich, wie wenig im Vergleich dazu die Schriftsteller* über eine wahre Übungskultur verfügen. Es ist erstaunlich, dass man fürs Üben von Schreiben fast werben muss. Man stelle sich einen (vermutlich russischen) Klavierdozenten* vor, der seinen Studis davon erzählt, dass es sinnvoll ist, zu üben!
Freilich ist es unter denen, die das kreative Schreiben studieren, sowie unter denen, die es lehren, bekannt, dass das Schreiben geübt werden will. Denn, was sollte ein solches Studium bieten, wenn nicht Übung, Übung, Übung und, nicht vergessen!, eine Menge Vitamin B? Doch man sollte es nicht unterschlagen: Die wenigsten Schreibenden sind studierte.
Nehmen wir bspw. ihn hier: Er heißt Mark, 31 Jahre alt, und er arbeitet in einer IT-Firma. Seine Kollegen* wissen nichts von seinem Doppelleben. Bei Nacht wird er zum Autor, wie andere zum Vampir. In jeder Sitzung schreibt er zwei bis fünf Seiten. Das Manuskript ist schon auf 300 Seiten angewachsen. Bald ist der erste Band fertig. Die Reihe „Die Schwerter von Razumiguhl“, so meint er, wird sein Leben verändern. „Ich werde so berühmt sein wie George R. R. Martin“, flüstert er verträumt als er – es graut schon der Morgen und die Vögel heben an zu singen – ins Bett geht. Mark weiß nichts von Crauss und von Gertrude Stein. Mark weiß nicht einmal, dass man das Schreiben studieren kann.
Zugegebenermaßen, was in dieser Serie folgen wird, vielleicht ist es für Mark ein wenig zu verrückt, vielleicht ist es für ihn nutzlos. Aber wie soll er’s denn herausfinden, wenn er gar nicht dazu kommt, es zu versuchen?
Ja, wir werden den Bereich dessen verlassen, was Mark gewöhnt ist und schon kennt. Wer mit mir durch die Aufgaben dieser Serie geht, wird es an der ein oder andere Stelle, nein, an den allermeisten Stellen mit Sprachdingen zu tun bekommen, die fernab von dem liegen, was eben so üblich ist. Ich bitte Sie, mitbringen Sie eine homöopathische Dosis Wahnsinn! Denn ansonsten, sorry, wird es mit uns nichts werden. Und würde das nicht auch Mark guttun, ein bisschen Spinnerei, ein bisschen weniger Konvention?
Lassen Sie uns also ein wenig spinnert werden! Jedoch, dieser Wahnsinn erfordert Methode. Wir wollen sie uns eben von den Musikern* abgucken. Die sog. ambitionierten unter ihnen schaufeln sich Zeiten frei, nein, nicht für ihre „Kunst“, sondern bloß für ihre Übung. Manche schaffen nur 15 Minuten am Tag. Immerhin! Andere üben regelmäßig acht Stunden. Ein durch YouTube popularisierter Gag ist die Weisung, am besten übe man pro Tag 40 Stunden. Doch es kommt nicht so sehr auf den Zeitraum an. Vielmehr entscheidet die strukturierte und sinnvolle Nutzung der Übungszeit.

Der virtuose Jazzschlagzeuger Tony Williams.
„I used to practice eight hours a day, every day. From about 1956 until about 1962. It was a whole period in my life where nothing else was happening.“2
Hierfür erarbeiten viele Musiker* konkrete Übungspläne. Dies kann ein Wochen- oder Monatsplan sein, oder aber nur ein Strukturvorgabe für eine einzelne Übungssession. Letztere könnte (vom jeweiligen Instrument und von spezifischen künstlerischen Zielen abstrahiert) folgendermaßen aussehen: Zuerst wird jeder verantwortungsvolle Musiker* Aufwärmübungen, warm ups, absolvieren. Das hier Geübte ist von relativ niedrigem Schwierigkeitsgrad. Es geht nicht darum, sich selbst von der eigenen Virtuosität zu überzeugen, auch nicht darum, etwas erklingen zu lassen, das nach „richtiger“ Musik tönt. Es geht wirklich, wie im Sport, um das physische und wohl auch geistige Aufwärmen, darum, den Körper an die oddly specific Anforderungen und Bewegungen zu gewöhnen, die die musica ihren Jüngern* abverlangt.
Erst danach wird zur nächsten Phase fortgeschritten. Spezifische Techniken werden geübt, die ins Repertoire eingefügt werden sollen. Auch hier gibt es meist keinen unmittelbaren Hinblick auf ein spezifisches „Kunstwerk“. Es sollen einfach bestimmte Bewegungsabläufe einstudiert und ins Muskelgedächtnis permanent aufgenommen werden.
Hiernach wird fortgeschritten zu tatsächlichen Stücken. Das Material für den nächsten Auftritt wird vorbereitet. Abschließend dann, nach diesen schlauchenden und konzentrierten Stunden, wird es gestattet sein, sich ein wenig zu vergnügen. Die Übungssession endet etwa mit einer freien Improvisation.
Es versteht sich, dass alle Musiker* ihre eigene, regelrecht, Philosophie haben, wie ihnen das Üben am besten von statten geht. Die Übungspläne unterscheiden sich, nicht jedoch die Geplantheit der Übung. Wir wollen uns anschicken, einen ähnlichen Grad von Bedachtheit und Struktur für die literarische zu etablieren.
Man wird sich also vorab folgende Frage stellen müssen: Wie viel Zeit kann ich täglich erÜBrigen? Wenn es nach mir geht: Kündigen Sie Ihren Job (Wahrscheinlich ist er sinnlos.), brechen Sie das Studium ab (Es wird Sie nicht verschläuern.), gewöhnen Sie sich an die Armut (Oder seid ihr schon per Du?) und schreiben Sie pro Tag viele viele Stunden! Sie finden das zu radikal? Na, dann müssen wir eben mit dem umgehen, was zur Verfügung steht.
Ohnehin: Ich scherze nur. Das Essen will auf den Tisch gebracht werden. „Der Mensch lebt nicht vom Wort allein…“ – oder, äh, wie war das nochmal in der Bibel? Die kommenden Beiträge werden Anregungen für den literarischen Übungsplan bieten, ungeachtet dessen, ob er sich auf eine Viertelstunde oder auf 40 pro Tag erstreckt. Aus den von mir vorgestellten Aufgaben wird sich jeder aussuchen können, was sinnvoll erscheint und ins bereitstehende Zeitpensum passt. Wichtig ist zuerst einmal nur, dass die literarische Übung als solche bewusster Teil des Tagesablaufes wird.
AUFGABE 1
Beantworten Sie die folgenden Fragen. Erstellen Sie ein Dokument oder nehmen Sie Ihr Notizbuch zur Hand. Tragen Sie Ihre Antworten darin ein.
—Ich freue mich über alle, die ihre Bearbeitungen mit mir teilen! Nutzen Sie hierfür bitte die Kontaktmöglichkeit dieser Website.—
- Welchen Zeitraum kann und will ich mir für die literarische Übung (bestenfalls) täglich freihalten? Insb. welchen Anteil meiner üblichen Schreibarbeit (so vorhanden), meinem Werkeln am „Werk“, möchte ich zukünftig der Übung überlassen?
- Welche Bedingungen muss ich schaffen, um diese Zeit konzentriert nutzen zu können (bspw. Kinder aussetzen, Hund erschießen o. Ä.)?
- Kenne ich bereits literarische Übungen, die ich auf jeden Fall in meinen Übungsplan integrieren will?
- Kenne ich persönlich beeindruckende „Über*“ (Sportler*, Musiker*…)? Was kann ich von Ihnen lernen? Wie gestalten und strukturieren sie ihre Übungszeit?
- Was kann ich tun, um nicht den drive zu verlieren? Was hilft mir, am Ball zu bleiben, auch an einem schweren Tag?
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