Schreiben üben: Warm up! (1)

Outdoor Gymnastik der Kinder (wohl 19. Jhd.)
(Quelle: Wikicommons)

„[Die] Muskeln der Kreativität entstehen durch gewissenhaftes Training, durch die Bereitschaft, neue Reize (oder […] Grenzen) zu setzen, die den Muskel anstrengen und fordern“, so Crauss in seinem Werkbuch „Unkreatives Schreiben“. Ich will die Metapher von der Kreativität als Muskel ernst nehmen (zu ernst).

Müssten wir uns nicht hüten vor allerhand Verletzungen am für uns lebenswichtigen Poesiezentrum, das vermutlich liegt zwischen Hypodings und irgendeinem lobe? Überdehnungen und Zerrungen, gar Faserriss und Schlimmeres drohen, das lese ich online nach über Sportverletzungen durch mangelhaftes Aufwärmen.

Als erstes will ich daher für den Übungsplan (s. letzter Beitrag dieser Reihe) ein warm up vorschlagen. Ich zweckentfremde dafür die sog. écriture automatique.

André Breton abgebildet von Man Ray
Druck nach Fotografie mit Ray-typischer Solarisation, 1928
(Quelle: Google Arts and Culture)

Qu’est-ce que c’est? Ich will mich auf das Nötigste beschränken, indem ich anmerke, dass die écriture automatique, das „automatische Schreiben“, auf die surrealistische Literatur zurückgeht, insb. auf ihre literarisch-technische Aneignung von Überlegungen der frühen Psychoanalyse. Es fällt mir schwer, nicht von Breton und Freud zu schwafeln, doch will ich hier nur sagen, dass das automatische Schreiben ein Schreiben ohne Absetzen ist, ein möglichst ununterbrochenes, sodass Hand und Hirn stets in action sind. Dieses Vorgehen soll leisten eine Hinabfuhr der Eigenzensur, uns das Zaudern austreiben. Durchstreichen verboten! Der Text ist, was er ist. Dieses Vorgehen wird klarer, indem ich einige Varianten davon vorstelle:

AUFGABE 1: Rawdogging l’écriture

Ich freue mich über alle, die ihre Bearbeitungen mit mir teilen! Nutzen Sie hierfür bitte die Kontaktmöglichkeit dieser Website.

Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Stellen Sie sich einen Timer auf zwei Minuten. Schreiben Sie bis der Timer abläuft in Stille (keine Musik etc.) und ohne Absetzen. Grammatik, Rechtschreibung, Sinn: das ist jetzt irrelevant. Schreiben Sie alles, was ihnen einfällt auf, mögen dadurch auch Gedankengänge ge- oder zerstört werden. Hier gilt wirklich: Anything goes! Das Ziel ist kein „kohärenter“ Text. Das Ziel ist keine hohe Poesie, Hölderlin, Hexameter pp. Versuchen Sie, den inneren Kritiker* abzustellen und sich nicht selbst zu zensieren.

Und — was war das für eine Erfahrung? (Weiter unten finden Sie Reflexionsfragen zu den Aufgaben.) Tat die Hand schon weh? Wer neu mit dieser Schreibtechnik umgeht stößt vielleicht auf manche Schwierigkeit. Die Selbstzensur lässt sich nicht per Knopfdruck ausschalten. Und manchmal bleibt der Kopf mehr oder weniger blank. Bspw. fand ich unter meinen Notizen diesen alten Text:1

„ZERKRACHT zerdoingt UPS FUTSCH hinterher ist man immer schlauer. Nein. Es ist nicht wahr. Man lernt nichts. Man bleibt immer gleich dumm wird dümmer bis man ddddjddjdjdjdjdjdjdjdjd

Entschuldigen Sie, das war die Katze. Sie ist manchmal vergesslich oder übersieht, dass sie ihre Krawatte nicht richtig zugezogen…

Komm her, mein Darling, ich werde dir helfen. Lass mich doch, beschwere dich doch nicht, du seist sogleich entmannt. Vielmehr würde es nicht deine Manneskraft und die Weite deines Herzens eher zeigen, wenn du mich an dich also äh ranlässt, sodass ich das besagte Krawättlein?

Aber aber! Da brauchst du noch nicht gleich so grob werden. Also ein solcher Haudegen neinvielmehr eben Grobian oder äh

Ja, danke für Nichts. Ade. A B C“

Katzen können gar nicht schreiben. (Quelle: picryl)

Dass meine Katze „ddddjddjdjdjdjdjdjdjdjd“ schrieb ist glatt gelogen. Ich war’s, denn mir fiel nichts anderes ein. Am Ende des Textes wird meine Frustration explizit: „Ja, danke für Nichts. Ade. A B C“. Bei der écriture müssen wir zuweilen mit solchen Ergebnissen rechnen.

Es ist also normal, falls Ihr erster Versuch des „automatischen Schreiben“ eine Anreihung ist aus „ah Hilfe!“ und „die Seite ist leer &mir fällt nichts ein“. Wir versuchen es einfach nochmal!

AUFGABE 2: écriture mit Musik

Wiederholen Sie Aufgabe 1. Anstatt einen Timer zu stellen, geben Sie sich durch ein Musikstück einen Zeitrahmen. Das gewählte Stück sollte nicht zu lange sein. Einen ganzen Sinfoniesatz?! Das wird Ihre Hand nicht mitmachen.

Und: „Wollt ihr noch eine Fahrt??“

AUFGABE 3: écriture mit Musik again

Wiederhole Aufgabe 2, doch wähle diesmal eine andere, möglichst verschiedene Musik (bspw. langsam / schnell, instrumental / mit Gesang, eher akustisch / eher elektronisch…).

Die écriture automatique kann schlauchend sein. Ich gestehe : für dieses warm up bräuchte man glatt ein warm up. Ich hoffe, Sie haben noch Energie für die obligatorische Reflexion?

AUFGABE 4: Reflexion

  1. Erstellen Sie ein Dokument um dort Ihre automatischen Texte zu sammeln. Schreiben Sie Ihre Texte darein ab. Behalten Sie Rechtschreibfehler usf. bei und versuchen Sie in der digitalen Abschrift, den ursprünglichen Textfluss (Zeilenumbrüche usw.) zu erhalten. Nutzen Sie dieses Dokument für die Sicherung aller zukünftigen écriture-Stücke.
  2. Lesen Sie Ihre Texte nochmals und beantworten Sie anschließend (gerne auch schriftlich) folgende Fragen:
  • Welche Schwierigkeiten begegneten mir bei meiner écriture automatique (bspw. Einfallslosigkeit, fortbestehende Selbstzensur, Ablenkung)? Wie könnte ich diese Schwierigkeiten überwinden?
  • Was kann ich aus diesen Texten über mich selbst lernen?
  • Welche Unterschiede lassen sich feststellen zwischen den verschiedenen Versuchen (auch im Hinblick auf mit/ohne-Musik bzw. das Schreiben mit verschiedenen Musiken)?
  • Gibt es zwischen den Texten Überschneidungen (bspw. thematisch, bestimmte Stilmittel, Wendungen, Motive)?
  • Was mag ich an den Texten (bspw. bestimmte Formulierungen, den Ton, ein Bild, ein Thema)? Kann ich Teile meiner écriture in anderen Texten wieder aufgreifen? Oder als Ausgangspunkt für neue Texte verwenden?
  • Wo irritiert mich vielleicht das von mir Geschriebene (bspw. ungewollte, vielleicht unangenehme Assoziationen oder Gedankengänge, bedrückende Bilder, Vulgarität)?
  • Welche Variante dieser Übung möchte ich in meinen literarischen Übungsplan integrieren? Und wie? (Bspw. Zielsetzung = eine écriture pro Tag. Ich selbst versuche drei.)

  1. Entgegen meines üblichen Vorgehens beim automatischen Schreiben wurde dieser Text am Computer verfasst. ↩︎


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